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Die englische Pfarrersfrau verhütete das Schlimmste

Die englische Pfarrersfrau verhütete das Schlimmste

Datum Chronikeintrag: 1. April 1945

Während die benachbarte Großstadt Wuppertal bereits seit fast zwei Jahren in Schutt und Asche lag, war die nordöstlich angrenzende westfälische Landgemeinde Gennebreck mit dem Kirchdorf Herzkamp bis Anfang 1945 von Schäden durch Luftangriffe weitgehend verschont geblieben. Lediglich für den 21. Mai 1944 enthielten die Luftschutz-Tagesmeldungen den Hinweis auf einen Schaden: „Gemeinde Herzkamp, 1 Minenbombe, 5 Häuser mittelschwer und 28 Häuser leicht beschädigt, 1,25 ha Flurschaden, Telefonleitung zerstört.“

Wegen der vergleichsweise sicheren Lage desGemeindegebietes hatte sich 1944 der Düsseldorfer Gauleiter Karl Florian dort im „Haus in der Sonne“einquartiert, Das Haus mit der heutigen Adresse Im Wiesental war ein ehemaliges Erholungsheim für Beschäftigte der Stadt Wuppertal und hatte von 1941 bis 1944 als Genesenen-Lazarett gedient. Gauleiter Florian war Zeitzeugen zufolge„einer der übelsten Durchhaltefanatiker Hitlers bis zum bitteren Ende“.

Die Geschichte der Befreiung Gennebrecks ist verbunden mit dem Ruhrkessel, der mit der Eroberung der Rheinbrücke von Remagen durch amerikanische Truppen am 7. März1945 Gestalt annahm. Dieser Übergang schuf das südliche Einfallstor über den Rhein Richtung Osten und bildete neben dem Rheinübergang bei Wesel den Startpunkt für die Zangenbewegung der alliierten Truppen zwischen Sieg und Lippe. Am 1. April trafen sich die 1. und die 9. US-Armee in Lippstadt. Der 6000 km² große Ruhrkessel war damit geschlossen und die Vernichtung der eingeschlossenen deutschen Heeresgruppe B nur noch eine Frage von Tagen. Je mehr es dem Ende zuging, desto hektischer wurde das Bemühen, das Schicksal zu wenden. Die Lage für die deutschen Truppen war aussichtslos und chaotisch.

 

[…]

Der Auftrag an die Soldaten der Heeresgruppe B lautete nach wie vor: Verteidigung bis zum letzten Mann! Diesen Befehl befolgten Viele bis zur Selbstzerstörung und nahmen den Tod der Zivilbevölkerung in Kauf. Der sogenannte Nero-Befehl, der Führerbefehl Hitlers vom 19. März ordnete an: „Alle militärischen, Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann, sind zu zerstören.“

Militärische Sprengkommandos versuchten in diesen Tagen mehr oder weniger erfolgreich, Brücken, Tunnels und Sperrmauern der Talsperren zu sprengen. Die Sprengung der Müngstener Brücke zum Beispiel konnte nur aufgrund eines gefälschten Befehls des Generalfeldmarschalls Model verhindert werden.

Während die Amerikaner am 11. April von den Ruhrhöhen bei Bochum den Bereich südlich der Ruhr mit massivem Artillerie-Beschuss überzogen, verfügte ein Funkspruch des Landratsamtes in Schwelm die Auflösung der Läger und die Aktenvernichtung in den Städten und Ämtern des Ennepe-Ruhr-Kreises.

Das Lager für Zwangsarbeiter am Bahnhof Schee war bereits vorher geräumt worden. Die Männer aus den Niederlanden, Belgien und Frankreich, die hier unter erbärmlichen Umständen leben mussten, hatten in einer vor Luftangriffen geschützten Röhre des Eisenbahntunnels Schee für die Vohwinkeler Firma Homann Rumpfspitzen für das Messerschmitt-Jagdflugzeug ME 262 montiert. Auch Gefangene aus der Sowjetunion, denen es noch viel schlechter erging, hatten hier schuften müssen. Sie warenallabendlich mit dem Zug in ihr Lager nach Wuppertal gefahren worden.

Im März 1945 verlagerte Homann den Betrieb, der denDecknamen „U Kauz“ trug, in das vermeintlich sichere Thüringen. In Gennebreck waren weitere Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in den Garagen des ehemaligen Reichsarbeitsdienstlagers am Ochsenkamp eingepfercht. Noch viel mehr als die deutsche Zivilbevölkerung werden sie diese letzten Tage vor der Befreiung in hoffnungsvoller Erwartung, aber auch in Angst und Schrecken verbracht haben. Ihre Lage war besonders prekär: Die Begegnung der ausgehungerten und geschundenen Menschen kurz vor der sicheren Befreiung mit marodierenden und demoralisierten deutschen Kommandos war lebensgefährlich. In diesem Zusammenhang ist das Schicksal des Sowjetbürgers zu sehen, der am 12. April 1945 sein Leben verlor und auf dem Herzkamper Friedhof bestattet wurde.

In diesen Tagen wurde auch die Gemeinde Gennebreck zur Front. Die chaotischen Rückzugsgefechte der Heeresgruppe B und Angriffe der näher rückenden alliierten Truppen gefährdeten jetzt alle ihre Bewohner, die seit Monaten durch vereinzelte Bombenangriffe und vor allem durch Beschuss aus Tieffliegern zermürbt worden waren. Ein ehemaliger Herzkamper Volksschüler erinnerte sich später an die letzten Kriegswochen:

„Wir Kinder konnten schon einige Wochen nicht zur Schule gehen, weil es wegen der Tiefflieger zu gefährlich war. Die Front kam immer näher. Man hörte schon aus der Ferne das Schießen der Geschütze. …“

Im Hotel Beermannshaus nahe dem Amtssitz Haßlinghausen fand am 13. April die letzte Kreisleitertagung der NSDAP im Gau WestfalenSüd statt. Dort befand sich der Kreisbefehlsstand für den Ennepe-Ruhr-Kreis, für das Freikorps Sauerland und den Volkssturm. Gauleiter undReichsverteidigungskommissar Albert Hoffmann löste, wie in der Literatur angegeben, den Gau Westfalen Süd auf und setzte sich ab. Zeitnahe Quellen lassen jedoch den Eindruck entstehen, dass sich diese Organisationen in der chaotischen Lage selbst auflösten und Hoffmann im Nachhinein eine offizielle Auflösung noch als einen Akt des Widerstandes darstellte. An diesem Tag wurde in den Zeitungen ein Erlass Heinrich Himmlers abgedruckt: „Jedes Dorf und jede Stadt werden mit allen Mitteln verteidigt und gehalten. Jeder für die Verteidigung seines Ortes verantwortliche deutsche Mann, der gegen diese selbstverständliche nationale Pflicht verstößt, verliert Ehre und Leben.

Noch waren unter anderem in Haßlinghausen und Herzkampdeutsche Fallschirmjäger-Einheiten in Stellung. Soldaten, die in dieser ausweglosen Situation versuchten, sich von ihrer Einheit abzusetzen, wurden gnadenlos verfolgt und hingerichtet. In einem Steinbruch im Hilgenpütt erschossen Wehrmachtsangehörige zwei ihrer Kameraden, die zuvor von einem mobilen Standgericht am ehemaligen Schacht Hövel nahe dem Bahnhof Schee festgesetzt und zum Tode verurteilt worden waren. Ihre Leichen wurden nach Kriegsende geborgen und, weil die Erkennungsmarken entfernt worden waren, als „unbekannt“ auf dem Herzkamper Friedhof beigesetzt.

Am Tag, als Gauleiter Albert Hoffmann sich davonstahl am 13. April besetzten die Amerikaner Radevormwald und Hückeswagen. Aus Richtung Radevormwald – Halver rückten sie nun nach Schwelm vor.

Einen Tag später standen Haßlinghausen und Herzkampunter massivem Beschuss. Luftminen und Artilleriebeschuss beschädigten unter anderem die Herzkamper Kirche. Aus Richtung Haßlinghausen und Gevelsberg erfolgte immer noch starke Gegenwehr mit vielen Toten und Verwundeten. Am Abend des 14. April war Schwelm komplett eingenommenund in der Nacht zum 15. rückten die Amerikaner mit Verstärkung nach Haßlinghausen und in Richtung Wuppertal vor. Dazwischen lag Gennebreck. Für Haßlinghausen und Linderhausen sind für den 15. und 16. April die Todesfälle von sieben Zivilisten und elf deutschen Soldaten bzw. Volkssturmmännern dokumentiert. In Gennebreck fielen noch am 16. April drei deutsche Soldaten „durch Feindeinwirkung“.

Edith Böing geb. Lewis (1874-1952), der aus England gebürtigen Ehefrau des Herzkamper evangelischen Pfarrers Julius Böing, war es Berichten zufolge mit zu verdanken, dass die Gemeinde in diesen Tagen von schwereren Zerstörungen verschont wurde.

Der Herzkamper Lehrer und Heimatforscher Dieter Hering (1940-2015) konnte seinerzeit noch lebende Zeitzeugenbefragen und fasste seine Recherchen wie folgt zusammen:

„In den letzten Kriegstagen hielten sich in der Umgebung von Herzkamp unterschiedliche versprengte Truppenteile auf, die z.T. auf den Höfen einquartiert waren. Ein junger Leutnant soll die letzten Truppenbefehle sehr ernst genommen haben und wollte Herzkamp bis zum letzten Mann gegen die heranrückenden Amerikaner verteidigen. Dazu hat er die versprengten Truppenteile unter sein Kommando genommen und u.a. auf dem Mettberg/Ochsenkamp eine Flak 8/8 installiert. Mit der wurde auf die auf dem Mollenkottenheranrückenden Amerikaner geschossen. Ob der Beobachtungsstand im Mollenkotten 20 zu der Zeit noch bestand, ist nicht gesichert. Jedenfalls schossen die Amerikaner auf dieses Verteidigungsnest mit Granaten. Einige Granaten flogen bis nach Herzkamp. Bei den einzelnen Granaten auf Herzkamp/Dorf traf eine Granate die mächtige Linde auf dem alten Schulhof, die auf das Lehrerhaus fiel und die Front zum Teil einriss. Das ist gesichert. Ich vermute, dass dieses hautnahe Erlebnis die Nachbarin [gemeint ist Edith Böing] veranlasste, mit den Amerikanern Kontakt aufzunehmen. ‚Beherzte’ Männer sollen daraufhin die Frau des Pastors Böing zu den Amerikanern geleitet haben, denen sie mit ihren Sprachkenntnissen klar gemacht haben soll, dass es sich bei der Flak 8/8 nur um ein paar Verwirrte handelte und nicht das Dorf Widerstand leistet. Daraufhin sollen die Amerikaner das Feuer eingestellt haben.“

Am 16. April war auch Wuppertal eingenommen und der Stab der Heeresgruppe B begann sich bei Haan aufzulösen. Der Düsseldorfer Gauleiter Karl Florian ließ noch vier Männer hinrichten, die die Stadt kampflos an die Alliierten übergeben wollten. Mit der Besetzung Düsseldorfs am 17. April waren die Kämpfe im Ruhrkessel beendet.

Es dauerte lange, bis die äußeren Spuren des Krieges in der Gemeinde Gennebreck beseitigt waren und sich die Versorgungslage besserte. Pfarrer Erwin Vogt, der 1946 seinen Dienst antrat, erinnerte sich an seine Anfänge in der evangelischen Kirchengemeinde Herzkamp:

„Im Äußeren begegneten einem noch die Spuren des Krieges auf Schritt und Tritt, abgebrannte Höfe, zerschossene Häuser. An der Kirche lag das zerschossene Chassis eines Panzers, der einen Kastanienbaum umgefahren hatte. Die umgefallene Linde auf dem Schulhof hatte die Wand am Lehrerhaus aufgerissen, Dach und Fenster der Schule waren zerstört. Dazu kam die Verknappung aller Dinge. Es gab keine Verkehrsmittel, keinen Tisch und keinen Stuhl, keinen Kochtopf und kein Ofenrohr. Die Nägel habe ich gegen Bezugsschein mit dem Fahrrad von Haßlinghausen geholt.“

Über Edith Böing, die Frau seines Vorgängers, schrieb Voigt:

„Es entsprach ihrem Wesen, dass sie für die politisch Irregeleiteten, nachdem ihr als Engländerin viel Leid zugefügt war, beim Einmarsch der Amerikaner ein gutes Wort einlegte und ihnen behilflich war.“

Im Klartext: In Gennebreck, der ehemaligen Nazi-Hochburg im einst „roten“ Amtsbezirk Haßlinghausen, dürfte Frau Böing in der Kriegszeit als „feindliche Ausländerin“ heftig diffamiertworden sein. Sie scheint den Mantel der christlichen Nächstenliebe über die Nazi-Verleumder ausgebreitet zu haben.

von Karin Hockamp